Der Geist der Berge

In Kirgistan engagieren sich deutsche Naturschützer in einem Projekt zum Schutz der stark bedrohten Schneeleoparden.

Kaum ein Wissenschaftler hat ihn je in freier Wildbahn gesehen, über sein Leben in den zentralasiatischen Hochgebirgen gibt es noch viele Wissenslücken. Nur eines ist sicher: Der Schneeleopard, von Wilderern erbarmungslos gejagt, gehört zu den seltensten Raubkatzen der Welt. Neuesten Schätzungen zufolge durchstreifen nur noch etwa 3000 bis 3500 Tiere ein riesiges Verbreitungsgebiet mit einer Fläche von knapp zwei Millionen Quadratkilometern, das sich über zwölf Staaten erstreckt.
Die eisigen, zerklüfteten Gebirgslandschaften des Himalaya, Hindukusch, Altai oder Tien-Shan sind das einsame Reich des Schneeleoparden. Im Sommer liegt sein Aktionsraum für gewöhnlich in einer Höhenstufe von 3000 bis 4500 Meter, mitunter klettert der Irbis, wie die schöne Katze auch genannt wird, bis auf 6000 Meter Höhe. An das Leben in dieser unwirtlichen Umgebung ist er optimal angepasst: Der muskulöse Brustkorb und die kurzen stämmigen Vorderbeine helfen beim Klettern über schroffe Felsgrate und Blockhalden, die deutlich längeren Hinterbeine ermöglichen bis zu 16 Meter weite Sprünge über Gletscherspalten – Weltrekord im Tierreich! Der lange, buschig behaarte Schwanz dient beim Springen als Steuerruder und beim Ruhen als wärmende Stola, die um den Körper gelegt wird. Sein rauch- bis beigegraues Fell mit dunklen Flecken und verwaschenen Rosetten macht den versteckt lebenden, meist dämmerungsaktiven Schneeleoparden in seinem natürlichen Lebensraum nahezu unsichtbar. Da zudem die Tiere selten sind und riesige Reviere bewohnen, die je nach Beuteangebot mehrere Hundert Quadratkilometer groß sein können, bekommen Menschen die scheue Großkatze nur höchst selten und flüchtig zu Gesicht. Die Einheimischen nennen den Schneeleoparden daher den „Geist der Berge“.  Selbst Wissenschaftler, die sich über Monate und manchmal Jahre mit viel Geduld und Ausdauer bemühen, sein Leben in freier Wildbahn zu erforschen, müssen meist mit Spuren im Schnee, Kot und Beuteresten vorlieb nehmen. Zu den Beutetieren gehören Steinböcke, Wildschafe und Wildziegen, auch Murmeltiere und größere Vögel. Im Winter folgen die Schneeleoparden ihrer Beute in tiefere Lagen bis 2000 Meter, gebietsweise sogar hinunter bis auf 600 Meter. Dort stehen dann auch Rehe und Hirsche, aber auch Haustiere auf ihrem Speisezettel. In dieser Zeit lebt der Irbis sehr gefährlich, denn hier trifft er auf Menschen, die ihm nachstellen. Wilderer folgen seinen Spuren im Schnee und suchen nach erlegten Beutetieren. Sie wissen, dass die große Katze stets zu ihrer Beute zurückkehrt, bis sie ganz verzehrt ist. Dort stellen sie Schlagfallen („Tellereisen“) auf oder legen vergiftete Fleischstücke aus. Sie töten die Tiere wegen ihres schön gezeichneten, dichten Fells oder fangen sie lebend, um sie gewinnbringend als Statussymbole an vermögende Privatpersonen zu verkaufen. Zwar steht der Irbis in fast allen Ländern seines Verbreitungsgebietes unter strengem Schutz, und das Washingtoner Artenschutzübereinkommen (CITES-Konvention) verbietet den Handel mit lebenden Exemplaren, Fellen oder sonstigen Körperteilen, doch sind Kontrollen in den riesigen, häufig abgelegenen und von politischen Unruhen erschütterten Gebieten schwierig. Insbesondere in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion wie etwa in Kirgistan, Tadschikistan oder Usbekistan blüht nach deren Zusammenbruch der Schmuggel mit gewilderten Tieren. Dem Ende der Sowjetherrschaft folgte ein jäher wirtschaftlicher Absturz. Auch in der Landwirtschaft brachen bisherige Arbeits- und Absatzstrukturen zusammen. Viele Menschen gerieten in Not. Die Verdienstmöglichkeiten durch die illegale Verfolgung der Schneeleoparden sind indes verlockend: Für einen Pelzmantel, für den bis zu 16 Tiere sterben müssen, zahlen Interessenten auf dem Schwarzmarkt bis zu 50.000 US-Dollar, die Wilderer erhalten pro Fell bis zu 2000 Dollar – das Fünffache des durchschnittlichen Jahresverdiensts eines Kirgisen. Noch lukrativer ist der Handel mit Knochen, Zähnen und Krallen, die in der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) Verwendung finden. Paradoxerweise führt gerade die zunehmend erfolgreiche Überwachung des Handels mit Tigerprodukten, in der TCM ebenfalls hoch gehandelt, dazu, dass die Wilderer und ihre oft bandenmäßig organisierten Hintermänner vermehrt auf andere Katzenarten „ausweichen“. Viele schlecht bezahlte Staatsbedienstete sind empfänglich für Schmiergelder, und der Schmuggel über die kaum kontrollierten Grenzen nach China ist kein großes Problem. In Afghanistan, wo der Schneeleopard zwar nicht geschützt, seine Ausfuhr aber trotzdem verboten ist, beteiligen sich offenbar auch Soldaten der ausländischen Friedenstruppen und UNO-Bedienstete am lukrativen Schmuggelgeschäft. „Allein in Kirgistan, das vor der Unabhängigkeit in 1991 den weltweit zweitgrößten Bestand mit geschätzten 800 bis 1400 Tieren beherbergte, verringerte sich die Zahl der Schneeleoparden durch illegale Verfolgung innerhalb weniger Jahre auf etwa 260 Tiere – obwohl die Art dort eigentlich verehrt wird“, beklagt Heike Finke, Artenschutzexpertin beim Naturschutzbund Deutschland (NABU). 
Bereits seit 1999 engagiert sich der NABU in Kirgistan in einem Projekt zum Schutz der Schneeleoparden. Gemeinsam mit der kirgisischen Regierung unter Führung des damaligen prowestlich orientierten Präsidenten Askar Akajew entwickelten Spezialisten ein Projekt, das die illegale Jagd und den illegalen Handel eindämmen soll, aber auch die Umweltbildung und Forschung fördert. Das wichtigste Standbein ist die mobile Wildhütertruppe „Bars“ (russische Bezeichnung für den Schneeleoparden). Ihre vier Mitglieder unterstehen dem kirgisischen Umweltministerium und sind per Regierungsverordnung mit weitreichenden Vollmachten und Polizeigewalt für ihre risikoreiche Tätigkeit ausgestattet: Die sorgfältig ausgewählten und gut ausgebildeten Männer operieren offiziell und verdeckt; sie dürfen Verdächtige verhaften sowie lebende Tiere, Felle, Waffen, Fallen und andere Beweismittel beschlagnahmen. Trotz der geringen Personalstärke und der riesigen Ausdehnung des zentralasiatischen Landes arbeitet die „Gruppa Bars“ sehr erfolgreich. Dazu trägt auch ein ständig wachsendes Netz von Informanten bei. Für Hinweise auf Wilderer oder illegale Händler gibt es eine Belohnung: Kleidung, ein neuer Sattel oder sogar ein Pferd. Durch die Hilfe von Informanten, Scheingeschäfte und regelmäßige Patrouillen in den entlegenen Bergregionen konnte die Wildhütertruppe bis heute 180 Wilderer und Händler verhaften, darunter auch zwei deutsche Trophäenjäger, und 17 Felle sowie Hunderte von Waffen und Fallen beschlagnahmen. Die Gesetzesbrecher müssen mit empfindlichen Strafen rechnen, regelmäßig berichtet das kirgisische Fernsehen über Festnahmen. Das Vorgehen scheint seine abschreckende Wirkung nicht zu verfehlen: Im Norden des Landes, in dem die Gruppe „Bars“ schwerpunktmäßig operiert, ging die Wilderei  insgesamt deutlich zurück, auch der Bestand der freilebenden Schneeleoparden hat sich in Kirgistan wieder leicht auf etwa 350 Tiere erholt. Die vom NABU finanzierte „Gruppa Bars“ konnte fünf Schneeleoparden sowie zahlreiche andere geschützte Tiere – vom Sakerfalken über seltene Schildkröten bis zum Wolf – lebend aus der Hand von Schmugglern befreien. Einen weiteren Schneeleoparden retteten NABU-Mitarbeiter im Mai 2010 nach der Flucht des gestürzten kirgisischen Ex-Präsidenten Kurmanbek Bakiew aus dessen Privatzoo. Für zwei weitere der seltenen Raubkatzen kam jede Hilfe zu spät, sie waren verhungert. 
Für verletzte oder geschwächte Tiere richteten die Artenschützer ein Rehabilitationszentrum in der kirgisischen Bergwelt ein, das einzige seiner Art in Zentralasien. Die Mitarbeiter pflegen die Tiere soweit, dass sie wieder in die Freiheit entlassen werden können. Die befreiten Schneeleoparden, die aufgrund ihrer in den Fallen erlittenen schweren Verletzungen oder anderer Beeinträchtigungen nicht wieder ausgewildert werden können, leben hier im weltweit größten Irbis-Gehege der Welt, das der NABU mit Unterstützung der englischen Tierschutzorganisation „Care for the Wild International“ gebaut hat. Auf einer Fläche von rund 7000 Quadratmetern finden derzeit drei erwachsene Tiere, ein Männchen und zwei Weibchen, artgerechte Bedingungen vor. „Mittlerweile haben wir sogar Nachwuchs im Gehege. Das zeigt, dass sich die Tiere hier wohlfühlen“, sagt NABU-Expertin Heike Finke: „Wir können die vier Jungtiere später aber nicht einfach freilassen, weil sie von ihren Müttern nicht das Jagen und das Überleben in der Wildnis lernen können.“ Stattdessen sollen sie an europäische Zoos abgegeben werden, um im Rahmen des Europäischen Erhaltungszuchtprogramms selbst für Nachwuchs zu sorgen.
Das Rehabilitationszentrum unter der Leitung des russischen Wissenschaftlers Victor Kulagin soll gleichzeitig auch Forschungsprojekte zur Lebensweise des Schneeleoparden koordinieren und auswerten. So sollen mit Funkhalsbändern ausgestattete Tiere den Forschern wichtige Fakten etwa zum Wanderverhalten oder dem sozialen Zusammenleben im Freiland liefern. Aus Exkrementen und Haaren gewonnene DNA-Proben ermöglichen den Aufbau einer genetischen Datenbank und damit Rückschlüsse auf die Anzahl und den Verwandtschaftsgrad der Schneeleoparden. 

„Neben der erfolgreichen Arbeit der Wildhütertruppe und der Forschung ist die Umweltbildung ein ganz wichtiger Bestandteil unseres Projekts in Kirgistan“, betont Heike Finke: „Nur durch einen Bewusstseinswandel in der Bevölkerung kann die Wilderei auf Schneeleoparden nachhaltig eingedämmt werden“. Schwierig genug, denn nicht nur Wilderer wollen dem Schneeleoparden ans Fell: Auch Hirten und Bauern sind nicht gut auf die Großkatze zu sprechen und töten sie, wenn sie ihre Rinder, Schafe und Ziegen reißt und dabei oft genug die wirtschaftliche Existenz der Betroffenen gefährdet. Doch das Problem ist vom Menschen selbst verursacht. Durch unkontrollierte Jagd und Wilderei sind vielerorts die natürlichen Beutetiere selten geworden oder ganz verschwunden, sodass der Irbis notgedrungen auf Nutzvieh ausweichen muss. Zudem dringen Hirten mit ihren Viehherden immer stärker auch in entlegene Rückzugsgebiete der Raubkatzen vor - Konflikte sind damit vorprogrammiert. Seit dem Jahr 2000 ist ein Umweltbildungsteam in den Wintermonaten, wenn die Hirten aus den umliegenden Bergen zurück und somit erreichbar sind, mit einem eigens ausgerüsteten „Leo-Bus“ in den Dörfern der kirgisischen Bergregionen unterwegs, um für den Schutz des Schneeleoparden zu werben. Die Projektmitarbeiter zeigen einen Film über den „Geist der Berge“ und das Schutzprojekt und diskutieren anschließend bei Tee und Gebäck mit den erwachsenen Dorfbewohnern. Für Kinder gibt es gesonderte Veranstaltungen an den Schulen. Wichtig für den Erfolg ist dabei, die kulturellen Besonderheiten des Landes zu berücksichtigen. So hat das NABU-Team für diese Aufgabe einheimische ältere Männer angeworben, denn diese sind traditionell bei der Bevölkerung hoch angesehen. Erste Erfolge zeigen sich auch hier: Manche Hirten informieren bei einem Leoparden-Angriff jetzt das NABU-Projektteam statt zum Gewehr zu greifen - ein ermutigender Erfolg.  

Dr. Uwe Westphal, Tier International 4/2010

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