Grüne Kraftquellen helfen Krebspatienten

Es sind kleine, zartgrüne Pflänzchen, die bei Jens Rusch gen Himmel sprießen. Pflanzen, in die viele Krebspatienten große Hoffnung setzen: Jiaogulan – das „Unsterblichkeitskraut“. 2005 erfuhr der Brunsbütteler Künstler in Thailand durch Zufall von der Pflanze, auf einem Kongress über begleitende medizinische Maßnahmen bei der Behandlung von Tumorerkrankungen. Selbst Krebspatient, brachte der Galerist einige Keimlinge mit nach Hause und kultivierte sie im Garten. Mit Erfolg: Inzwischen wachsen Tausende der bis zu acht Meter hoch rankenden Kürbisgewächse in Treibhäusern eines Kohlproduzenten in Marne (Dithmarschen) auf. Jiaogulan ist ursprünglich in China, Japan und Thailand beheimatet. In der chinesischen Provinz Guizhou trinken viele Bewohner täglich einen Tee aus den Blättern der Pflanze. Überdurchschnittlich viele Menschen werden dort über 100 Jahre alt – bei bester Gesundheit. Seit langem ist die Pflanze daher ein fester Bestandteil der traditionellen chinesischen Medizin (TCM). „Jiaogulan enthält hohe Konzentrationen an Ginsenosiden und Gypenosiden, chemische Substanzen, die nachweislich positive Wirkungen auf Herz und Immunsystem haben und die Vitalität stärken“, erklärt Prof. Dr. Thomas Efferth, Leiter der Abteilung für Pharmazeutische Biologie an der Universität Mainz. Ähnliche Inhaltsstoffe finden sich auch im bekannten Ginseng.
Im fetten norddeutschen Marschenboden, zusätzlich gedüngt mit dem Kot der Deichschafe, vermehrten sich die Pflanzen derart prächtig, dass Jens Rusch schon bald über 1000 Ableger an Krebspatienten abgeben konnte – mit der Auflage, Nachzuchten an weitere Betroffene zu verschenken. Dabei zeigte sich allerdings schnell, dass die Konzentration der Inhaltsstoffe bei den gezüchteten Pflanzen in hohem Maße abhängig ist von genetischer Abstammung, von Boden und Klima. Inzwischen ist Jiaogulan als Tee, Krautsalat und sogar eingebacken in Brot in vieler Munde. „Bei vielen Krebspatienten treten dadurch deutlich weniger oder schwächere Nebenwirkungen der Chemotherapie auf“, berichtet Rusch auch aus eigener Erfahrung.
Gegen den Tumor selbst hilft die Pflanze allerdings nicht. Doch auch dagegen ist ein Kraut gewachsen. Sogar mehrere, weiß Thomas Efferth, der sich seit zehn Jahren der systematischen Erforschung von Heilpflanzen der TCM widmet. Gemeinsam mit Kollegen aus Deutschland, Österreich und China untersuchte er, bis Oktober 2009 noch am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg, 76 chinesische Medizinalpflanzen, denen Heilkräfte gegen Krebs zugeschrieben werden. Extrakte aus 18 der untersuchten Gewächse hemmen das Wachstum von Krebszellen in der Kulturschale deutlich. Durch modernste molekularbiologische und genetische Analysen konnten die Wissenschaftler die Wirkmechanismen einiger dieser Pflanzenstoffe entschlüsseln. Aber warum produzieren Pflanzen überhaupt pharmakologisch aktive Substanzen? „Pflanzen haben kein eigenes Immunsystem“, erklärt Efferth: „Sie produzieren Gifte, die zum einen gegen Bakterien, Viren und Pilze wirken, zum anderen Fressfeinde abwehren sollen, zu denen letztlich auch der Mensch gehört.“ Genetische Untersuchungen zeigten auf molekularbiologischer Ebene eine viel engere Verwandtschaft zwischen ganz verschiedenen Arten als bislang angenommen wurde: „Wir sind einer Raupe viel ähnlicher als wir glauben!“, ist Efferth überzeugt. Der Grund: Eiweißmoleküle (Proteine), deren Molekularstruktur sich für bestimmte Funktionen bewährt hat, werden in der Evolution möglichst unverändert beibehalten. „Für Schlüsselprozesse erfindet die Natur nicht für jede neue Art ein ganz neues Protein, sondern greift auf das überlieferte molekulare Grundprinzip zurück“, erklärt der Wissenschaftler.
Bestimmte Proteine, gegen die sich das chemische Angriffsarsenal der Pflanzen richtet, sind also bei Einzeller, Wurm und Mensch ganz ähnlich aufgebaut. Deshalb können viele von Pflanzen produzierte Substanzen, die eigentlich Parasiten in Schach halten sollen, auch das Wachstum von Tumorzellen hemmen. Artemisinin etwa, ein vom „Einjährigen Beifuß“ produzierter Stoff, der gegen Malaria-Erreger wirkt, ist in Gegenwart von Eisen-Ionen besonders wirksam. Krebszellen weisen einen deutlich höheren Gehalt an organisch gebundenem Eisen auf als gesunde Zellen, sodass der Pflanzenwirkstoff ganz gezielt das Tumorwachstum hemmt.

Trotz aller modernen Erkenntnisse: „In der Schulmedizin gibt es immer noch große Vorbehalte – obwohl in der westlichen Medizin rund zwei Drittel aller Krebsmedikamente auf Naturstoffe oder deren Wirkprinzipien zurückgehen“, sagt Thomas Efferth. Doch das Interesse der Patienten ist groß: Jens Rusch, der Autodidakt aus Brunsbüttel, kann die Flut der Anfragen inzwischen kaum mehr bewältigen. Er hat sich deshalb Verstärkung organisiert: Auf der alljährlichen „Wattolümpiade“ spielt das „Wattrock-Festival“ Geld für zwei Krebs-Beratungsstellen an den Westküstenkliniken in Brunsbüttel und Heide ein – gut 100.000 Euro sind bereits zusammengekommen.

Dr. Uwe Westphal, Hamburger Abendblatt v. 8./9. Mai 2010


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