Feuer frei auf den Kormoran

Bis vor etwa 20 Jahren galt der Kormoran in Deutschland durch menschliche Verfolgung als nahezu ausgerottet. Seither haben sich die Bestände des großen Wasservogels durch gesetzlichen Schutz rasant vermehrt. Immer mehr Bundesländer verordnen jetzt den erneuten Abschuss des unter EU-Naturschutz stehenden Kormorans – allen ökologischen Erkenntnissen zum Trotz.

Die Gewehre geschultert, marschiert eine Gruppe von Jägern auf das kleine Wäldchen zu. Dicht an dicht stehen dort die Nester der Kormorane in den Bäumen. Schüsse hallen. Ein Vogel nach dem anderen stürzt von Schrotkugeln durchsiebt zu Boden. Mit Knüppeln und Fußtritten geben die Männer ihnen den Rest, stopfen die toten Tiere in blaue Müllsäcke. So geschehen im Frühjahr 2003 im Naturschutzgebiet "Niederhof" an der Ostseeküste bei Stralsund (Mecklenburg-Vorpommern). Das Massaker, dokumentiert von einem Fernsehteam des Hessischen Rundfunks, war legal. Genehmigt vom Landesamt für Umwelt, Naturschutz und Geologie in Güstrow.
Auch in anderen Bundesländern geraten die eigentlich streng geschützten Wasservögel zunehmend in die Schusslinie. Der Grund: Die perfekten Taucher, die pro Tag etwa ein Pfund Fisch pro Kopf vertilgen, haben sich in den letzten Jahren stark vermehrt. Bei Berufsfischern und Hobbyanglern sind sie daher nicht eben beliebt. Der Hass auf den schwarzen Vogel führte bereits einmal zu seiner fast vollständigen Ausrottung in Europa. Die Vernichtung des Kormorans wurde planmäßig betrieben: "Jeden Tag wurden hundert, insgesamt Tausende von Kormoranen getötet", heißt es etwa in alten Aufzeichnungen aus den 1880er Jahren über den Einsatz von Potsdamer Gardejägern zur Auslöschung einer großen Brutkolonie in der Mark Brandenburg. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der "Seerabe" in Deutschland wie auch in den meisten anderen europäischen Ländern fast völlig verschwunden.
1979 wurde der Kormoran dem strengen Schutz der Europäischen Vogelschutzrichtlinie unterstellt. Das war der Startschuss für ein überaus erfolgreiches Comeback. Heute brüten in Deutschland wieder rund 20.000 Paare in 102 Kolonien (Stand 2002) – mehr als vor dem Ausrottungsfeldzug.
Das freut die Naturschützer. Fischer und Angler dagegen fordern erneut eine drastische Bejagung. Längst hat der Streit darüber ein Ausmaß angenommen, das mitunter an mittelalterliche Hexenverfolgung erinnert. Als "Schwarze Pest" und "Unterwasserterrorist" wird der Kormoran in manch hitziger Diskussion von erbosten Angelfreunden geschmäht. Solcherart verbale Entgleisungen will Wolfgang Düver, Öffentlichkeitsreferent beim Verband Deutscher Sportfischer, so nicht stehen lassen: "Der Kormoran gehört für uns zur Artenvielfalt", beteuert er. "Aber wo er in Massen auftritt, wird er zur Bedrohung für die gesamte Fischfauna." Und für manche Teichwirte zur Bedrohung ihrer beruflichen Existenz: Bis zu 70 Prozent Verluste verursachten Kormorane in manchen Karpfenteichen, so ein 1994 vorgelegtes Gutachten im Auftrag der Bayerischen Landesanstalt für Fischerei. Immer mehr Landespolitiker geben daher dem Druck der Fischereilobby nach und erlauben die "letale Vergrämung", sprich den Abschuss der Vögel.
In Niedersachsen etwa darf außerhalb der Brutzeit jeder Kormoran liquidiert werden, der sich "auf, über oder näher als 100 Meter" an ein Gewässer mit Fischereirecht heranwagt – Naturschutzgebiete ausgenommen. Sechs Bundesländer haben inzwischen so genannte "Kormoran-Verordnungen" erlassen, in drei weiteren gibt es entsprechende Erlasse oder Richtlinien. Im November letzten Jahres wurde auf Initiative von Bayern im Bundesrat gar eine Entschließung verabschiedet, in der die Bundesregierung aufgefordert wird, "sich auf europäischer Ebene für Abhilfemaßnahmen zur Lösung der bei den Ländern vorhandenen Kormoranproblematik einzusetzen". Dies allerdings hält der grüne Bundesumweltminister Jürgen Trittin "nicht für geboten und auch nicht für aussichtsreich", wie er dem amtierenden Bundesratspräsidenten Dieter Althaus (CDU) in einem Schreiben vom 30. Januar 2004 als offizielle Antwort der Bundesregierung mitteilte. Die Naturschutzverbände sind gleichwohl empört: "Hier soll mit populistisch aufgebauschten Forderungen einzelner Interessengruppen die Hetzjagd auf eine bis jetzt zu Recht geschützte, aber leider nicht bei Jedem beliebte Tierart eröffnet werden", wettert etwa Helmut Opitz, Vizepräsident des Naturschutzbundes Deutschland (NABU).
Lokale Probleme, etwa an Fischteichen oder in bestimmten Fischlaichgebieten, verkennen auch die Naturschützer nicht. Doch wehren sie sich dagegen, den ungeliebten Vogel zum Sündenbock für negative Auswirkungen von Überfischung oder Gewässerregulierung zu machen. Der Einfluss des Kormorans auf die Fischfauna werde in unzulässiger Weise pauschalisiert, klagt Opitz. Detaillierte Fallstudien belegen in der Tat, dass die scheinbar simple Rechnung der Fischer und Angler "Viele Kormorane gleich wenig Fische" nicht aufgeht. An größeren Seen und Flüssen seien "Rückgänge der Erträge… nicht ursächlich auf den Kormoran zurückzuführen", heißt es etwa im oben zitierten "Kormorangutachten" der bayerischen Landesanstalt für Fischerei. Und auch die Behauptung der Anglerlobby, dass der Kormoran bestimmte Fischarten wie die Äsche bedrohe, stimmt dem Gutachten zufolge nur bedingt. Zwar sei ein negativer Einfluss durchaus gegeben, doch seien die Äschenbestände unter anderem durch technischen Verbau natürlicher Flussabschnitte bereits vor 1985 zusammengebrochen, zu einer Zeit also, als der Kormoran in Deutschland noch ein seltener Gast war.
Ökologen wissen, dass der schwarze Fischer unter natürlichen Bedingungen eine wichtige Rolle im Ökosystem Gewässer spielt. Wie komplex die Beziehung des Kormorans zu seiner Umwelt ist, zeigen Untersuchungen aus den Niederlanden. Dort untersuchte ein Forscherteam um Mennobart van Eerden am Ijsselmeer, einem durch Abdeichung entstandenen Binnengewässer, die Bestandsentwicklung der dort brütenden Kormorane. Die Wissenschaftler fanden heraus, dass eine hohe Nährstoffbelastung des Wassers und die Überfischung von Raubfischen durch den Menschen zu einer Massenvermehrung des Stints und anderer kleinerer Fische geführt hatten, von der wiederum die Vögel profitierten. Diese Faktoren dürften nach Meinung der Fachleute neben dem gesetzlichen Schutz generell hauptverantwortlich sein für die europaweite Vermehrung des Kormorans in den letzten Jahrzehnten.
Mit einer Verbesserung der Gewässergüte im Ijsselmeer in jüngster Zeit ging auch die Zahl der dort brütenden Kormorane deutlich zurück. Die holländischen Forscher halten daher die Bemühungen um eine Reduzierung von Nährstoffeinträgen und eine nachhaltige, ökologisch ausgerichtete Fischerei für die Schlüsselfaktoren zur Regulierung der Kormoranbestände auf europäischer Ebene. Alle anderen Versuche, so van Eerden, fielen unter die Kategorie "mission impossible". In den Niederlanden, wo etwa genauso viele Kormorane brüten wie in Deutschland, ist ihre Bejagung daher kein Thema.
Die deutschen Behörden setzen indes allen fachlichen Argumenten zum Trotz weiterhin unbeirrt auf den unkoordinierten Abschuss. Seit dem Winter 1996/97 etwa werden in Bayern in jedem Winterhalbjahr Tausende von Kormoranen getötet. Dennoch blieb die Gesamtzahl der durchziehenden und überwinternden Vögel annähernd konstant. Allerdings führte die Bejagung zu einer Zersplitterung der Rastbestände. Statt sich wie bisher an wenigen Stellen zu konzentrieren, verteilen sich die Kormorane nun im ganzen Land und bringen noch mehr Angler und Fischer gegen sich auf. Ähnliche Erfahrungen machte man auch in Sachsen: "Die Fischer scheuchen die Kormorane nur von einem Teich zum anderen. Der Schaden bleibt insgesamt gleich", lautet das Resümee der Biologin Kareen Seiche, die seit 1993 im Auftrag des Sächsischen Ministeriums für Umwelt und Landwirtschaft ein Monitoring-Programm für Graureiher und Kormorane leitet. In Wirklichkeit dürfte der Schaden durch die Bejagung sogar ansteigen: "Durch die ständige Flucht verbrauchen die erschöpften Vögel mehr Energie und müssen daher mehr Fische fressen", sagt Andreas von Lindeiner, Artenschutzreferent beim bayerischen Landesbund für Vogelschutz (LBV).
In Bayern kümmerte sich Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) höchstpersönlich um die vorgeblichen Nöte der 18 Berufsfischer am Chiemsee. Folge: Im März 2002 genehmigte die Regierung von Oberbayern in der dortigen Kolonie – einer von nur sechs im ganzen Land – den Abschuss von bis zu 145 Kormoranen – in einem Gebiet, das als nationales Naturschutzgebiet und europäisches Vogelschutzgebiet ausgewiesen ist. 63 Vögel wurden geschossen, die Kolonie löste sich zunächst auf. Wenige Wochen später brüteten 113 Paare an derselben Stelle und zogen genauso viele Jungvögel auf wie die 140 Paare ein Jahr zuvor. Der "Erfolg" war bescheiden, die Störung durch die Jagd für alle Wasservögel immens. Eine Beschwerde des LBV bei der EU-Kommission in Brüssel verhinderte eine erneute Abschussgenehmigung für das Jahr 2003.
Für Fachleute wie den international renommierten Kormoran-Experten Thomas Keller ist der Misserfolg von derlei Aktionismus nicht überraschend: "Eine Kormoran-Population wächst solange exponentiell, bis die Kapazität ihres Lebensraumes erreicht ist. Dann reguliert der Bestand sich selbst", sagt er. Gerade dieses exponentielle Wachstum mache es grundsätzlich unmöglich, die Zahl der Kormorane durch Bejagung auf einem bestimmten Stand zu halten, weiß Biologe Keller: "Abschüsse in der Brutkolonie werden durch erhöhten Bruterfolg kompensiert und sind deshalb kontraproduktiv."
Will man die Vögel europaweit nicht wieder gänzlich an den Rand der Ausrottung schießen, müssen Konzepte her, mit denen Kormorane und Menschen gleichermaßen leben können. Im Rahmen des mit EU-Mitteln geförderten Projektes REDCAFE (Reducing the conflict between cormorant and fisheries on a pan-European scale) setzten sich Interessenvertreter aus Naturschutz, Hobby- und Berufsfischerei sowie unabhängige Wissenschaftler aus 24 europäischen Ländern und aus Israel an einen Tisch, um alles verfügbare Wissen zusammenzutragen und so die Grundlage für ein praktikables europaweites Management des Konfliktes zwischen Kormoran und Fischerei zu entwickeln. "Ein Patentrezept gibt es nicht. Aber Länder wie Israel oder die Schweiz zeigen uns, wie man erfolgreich mit dem Kormoran-Problem umgehen kann", sagt Thomas Keller, einer der Koordinatoren des REDCAFE-Projektes. In der Schweiz werden Kormorane an Gewässern bis zu einer Größe von 50 Hektar bejagt, auf allen größeren Seen lässt man sie unbehelligt. Folge: Fast 90 Prozent der intelligenten Vögel halten sich an den großen Seen auf – dort, wo sie vor den Schrotsalven der Jäger sicher sind und am wenigsten Schaden anrichten. Und seitdem in Israel die Kormorane am See Genezareth geduldet werden, sind die Schäden an den Fischteichen im benachbarten Hula-Tal drastisch zurückgegangen. Kaum ein Vogel muss dort mehr sein Leben lassen.
Doch in Deutschland bleibt die ökologische Vernunft vielerorts weiterhin auf der Strecke. Biologin Seiche bringt es auf den Punkt: "Die Naturschutzbehörden sehen die Bejagung als Ventil für die Fischer, ihren Frust loszuwerden, und dies ist die einzige Begründung."

© Dr. Uwe Westphal 2004

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